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Die Zukunft der Volksgruppen in Wien

Dr. Heinz Tichy spricht über die dringende Notwendigkeit eines zeitgemäßen Volksgruppenrechts. [Foto: Tyran]

In den Räumlichkeiten des Österreichisch-Slowakischen Kulturvereins diskutierten 20.10.2016 zahlreich erschienene Gäste und ARGE-Vereinsmitglieder Beiträge des Sammelbandes „Neue Entwicklungen der Volksgruppen in Wien“. Prof. Albert F. Reiterer skizzierte in seinem Hauptreferat bemerkenswerte Zukunftsprognosen. Das Buch, das anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Wiener Arbeitsgemeinschaft für Volksgruppenfragen – Volksgruppeninstitut (ARGE) als Band XXVI der Reihe integratio erschienen ist, gibt einen Überblick der bisherigen Vereinstätigkeit, in deren Mittelpunkt die in Wien beheimateten Volksgruppen stehen.

Themenpalette vom Kulturleben bis zum Volksgruppenrecht

Die rund 30 thematischen Beiträge, die von Angehörigen aus allen anerkannten Volksgruppen sowie der deutschsprachigen Mehrheit stammen, lassen sich in mehrere Schwerpunkte gliedern. Einen davon bildet die Darstellung des reichen kulturellen Lebens der Volksgruppen ebenso wie das von allen Volksgruppen bekundete Verlangen nach einer kräftigen staatlichen Förderung des unzulänglichen Bildungsangebots in den betreffenden Volkgruppensprachen.

Einen weiteren Schwerpunkt bilden Themen, die für alle Volksgruppen in Österreich relevant sind und von namhaften Experten aus dem Bereich der Rechtswissenschaft, Geschichte, Linguistik, Soziologie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaft und der Psychologie verfasst wurden. Das Buch stellt zudem ein von der ARGE entwickeltes und von vielen Volksgruppenorganisationen unterstütztes Konzept eines zeitgemäßen Volksgruppenrechts vor, das für jede Volksgruppen die eigene Rechtspersönlichkeit (als Körperschaft öffentliches Rechts) und damit eine einheitliche Interessensvertretung gegenüber dem Staat ermöglicht. Dieses Konzept stellte die ARGE bereits im Oktober 2012 vor.

Kurze Beiträge zum Buch von den Mitautoren Vladimir Mlynár, Richard Basler, Eva Wohlfarter und dem Vereinsobmann Heinz Tichy beschäftigten sich mit der Identitätsbildung der Volksgruppen, der Sprachenentwicklung bei den Kärntner Slowenen, mit der noch immer offenen Erfüllung von Anliegen der Volksgruppen auf Basis der Anforderungen des Europarats und mit einem zeitgemäßen Volksgruppenrecht. Vladimir Mlynár zeigte einen historischen ORF-Beitrag über die Anfänge der ARGE.

Volksgruppen als bessere Stammtischvereine

Prof. Albert F. Reiterer sieht ob der geänderten Prioritäten eine düstere Zukunft für die Volksgruppen. [Foto: Tyran]

Im Hauptreferat zur Zukunft der Volksgruppen beschreibt Professor Albert F. Reiterer die Identität mit einer „freiwillig gewählten Zugehörigkeit zu nicht diskriminierten Gruppen mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen auf das Leben“. Prof. Reiterer stellt weiters fest, dass die alten, traditionalen Identitäten aus der bisherigen Zuschreibung stark an Relevanz verlieren und immer stärker die Form der Erinnerung an die Familiengeschichte annehmen. Mit der aktuellen Lebenssituation hätten sie kaum noch was zu tun. Reiter: „Diese Erinnerung äußert sich dann nur mehr als Teilnahme an einem Fest oder als Vorliebe für einige Speisen und Gerichte.“

Die alten Zuwanderungs-Minderheiten, der Tschechen, der Slowaken, oder Ungarn, wären als sichtbare Identitäten bereits verschwunden, wenn es nicht neue Zuwanderer gäbe, die gleichzeitig gerettet und transformiert haben. Ein Großteil der neuen Zuwanderer sei an den alten Formen der ethnischen Organisationen nicht interessiert. Sie definieren ihre eigenen Anliegen und Probleme völlig anders. Die Frage der Anerkennung neuer Volksgruppen in Österreich sei beispielsweise in dieser Hinsicht keine vordringliche Angelegenheit. Der neue Globalismus hat ganz andere Reaktionen und Verhaltensweisen hervorgebracht. Die Parameter haben sich geändert.

Prof. Alber F. Reiterer empfiehlt das Aufgreifen der realen und die brennenden Probleme. Geschieht dies nicht – so befürchtet Reiterer – werden in zehn Jahren tschechische, slowakische, ungarische, burgenland-kroatische und vielleicht auch polnische Vereine in Wien kaum mehr als bessere Stammtische sein. Albert F. Reiterer: „Sie werden sich verschwörerisch mit einem Gruß in der eigenen Sprache gegenüber treten. Aber am nächsten Morgen werden sie die harten realen Probleme angehen, und zwar nicht in Tschechisch oder Slowakisch, sondern in Deutsch oder Englisch.“